"Soforthilfe Psyche" unterstützt Betroffene in den Katastrophengebieten
Die Flutkatastrophe, die Mitte Juli Rheinland-Pfalz hart getroffen hat, liegt mittlerweile einige Wochen zurück - doch für die Betroffenen ist sie noch lange nicht vorbei: Viele von ihnen haben Angehörige verloren, Todesangst erlebt, körperliche Verletzungen und immense materielle Schäden erlitten. Die psychische Belastung unter betroffenen Kindern und Erwachsenen ist groß. Die schrecklichen Erlebnisse der Flutnacht lassen viele Menschen nicht los. Wie kann man ihnen helfen, mit dem Schicksalsschlag umzugehen und das Erlebte zu verarbeiten? Wie kann psychotherapeutische Unterstützung in so einer Situation aussehen? Daniela Lempertz, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin und Mitglied der Landespsychotherapeutenkammer Rheinland-Pfalz, hat mit Kolleg*innen das Netzwerk „Soforthilfe Psyche“ aufgebaut, um den Flutopfern zu helfen und berichtet von ihren Erfahrungen aus dem Ahrtal.
Frau Lempertz ist Expertin für den Umgang mit Erlebnissen, die Menschen aus der Bahn werfen: Die Behandlung von Traumafolgestörungen wie beispielsweise Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) ist einer ihrer Arbeitsschwerpunkte, sie ist zudem zertifizierte EMDR-Therapeutin für Kinder und Jugendliche. Sie hat außerdem einen starken persönlichen regionalen Bezug zum Katastrophengebiet, da sie in der Eifel geboren wurde. Direkt am Tag nach der Flut beschloss Frau Daniela Lempertz gemeinsam mit ihrer Kollegin Susanne Leutner, vor Ort zu helfen. Ein Arzt aus Ahrbrück im Landkreis Ahrweiler hatte sich mit einem Hilferuf an die Medien gewandt: seiner Einschätzung nach seien 95% der Bewohner*innen des Ortes psychisch durch die Katastrophe belastet. So machte sich Frau Lempertz auf den Weg nach Ahrbrück.
In der Grundschule war ein soziales Zentrum errichtet worden, hier stellten Lempertz und ihre Kolleg*innen sich vor und boten ihre Unterstützung an. Keinesfalls wollten sie die bestehenden Strukturen der Psychosozialen Notfallversorgung (PSNV) behindern, es ging darum „einfach da zu sein und Hilfe anzubieten“ erklärt sie. Das Angebot sprach sich herum, und nach und nach kamen Ersthelfer*innen, Jugendliche, Mütter und Kinder und andere Betroffene. In dieser ersten Phase nach der Katastrophe, der Phase der Akut-Traumatisierung, sei das Wichtigste, die Menschen zu beruhigen, Orientierung und Sicherheit zu vermitteln, erklärt Frau Lempertz. Die Vermittlung von kleinen Atem- und Achtsamkeitsübungen kann Betroffenen helfen, den anstrengenden Alltag im Katastrophengebiet zu bewältigen. In den Gesprächen muss zudem abgeklärt werden, bei wem eine Akut-Intervention notwendig ist.
Auch in benachbarten Dörfern hörte man von der psychotherapeutischen Unterstützung, die Lempertz und ihre Kolleg*innen in Ahrbrück anboten. Es meldeten sich Gemeindehelfer*innen, Pastoren, Schuldirektor*innen und andere, die darum baten, auch in ihrem Ort tätig zu werden. Da schon wenige Tage nach der Flut zahlreiche Hilfsangebote von Kolleg*innen sowie Spenden eingegangen waren, konnte eine studentische Hilfskraft zur organisatorischen Unterstützung eingestellt und die Arbeit auch auf andere Orte ausgeweitet werden. Auch die Landespsychotherapeutenkammer Rheinland-Pfalz unterstützte das Projekt von Anfang an. Schnell entstand ein gut funktionierendes Netzwerk, das unter dem Namen „Soforthilfe Psyche“ (www.sofortaktiv.de) Hilfesuchende an Psychologische Psychotherapeut*innen, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen und ärztliche Psychotherapeut*innen vermittelt, die in der Regel über eine traumatherapeutische Zusatzausbildung verfügen. Rund 400 Kolleg*innen sind mittlerweile im Netzwerk aktiv und so gelingt es der „Soforthilfe Psyche“ im Bedarfsfall, innerhalb von 24 Stunden einen Platz für Akut-Therapie zu vermitteln. Betroffene der Flutkatastrophe, die Hilfe brauchen und Psychotherapeut*innen, die helfen möchten, können sich unter trauma(at)sofortaktiv.de melden.
Die Arbeit des Netzwerkes wurde mit der Zeit immer strukturierter: die beiden Initiatorinnen, Daniela Lempertz und Susanne Leutner, sowie eine dritte Kollegin, Claudia Faust, koordinieren die Arbeit und haben sich das Katastrophengebiet regional aufgeteilt. Für die einzelnen Orte wurden feste Ansprechpartner, sogenannte „Ortspaten“ bestimmt, die für die Suche nach geeigneten Räumen und die Einrichtung von festen Sprechstunden zuständig sind.
In verschiedenen Orten im Ahrtal wurden und werden Treffen mit Eltern, Erzieher*innen, Lehrer*innen, mit Betroffene und Fachkräften abgehalten, bei denen die Expert*innen über psychische Reaktionen von Kindern und Jugendlichen auf traumatische Erlebnisse informieren: Während einige Menschen mit Übererregung und Unruhe reagieren, zeigen andere gar keine Emotionen und wirken wie „eingefroren“ berichtet Frau Lempertz. Viele leiden unter Schlaflosigkeit, entwickeln Ängste und haben ein erhöhtes Nähebedürfnis, manche Kinder verlernen bereits erworbenen Fähigkeiten, wie etwa Schuhe binden oder den Gang zur Toilette, da das Gehirn mit der Verarbeitung der traumatischen Erlebnisse beschäftigt ist. Es sei wichtig, über diese Reaktionen aufzuklären und die Eltern zu beruhigen, erzählt Lempertz. Sie vermitteln ihren Zuhörer*innen: Diese Verhaltensweisen sind eine normale Reaktion auf ein anormales Ereignis. Eltern könnten ihren Kindern helfen, indem sie viel kuscheln, Rituale pflegen und Sicherheit vermitteln. Wichtig sei dabei aber auch, sich Pausen zu gönnen, für eine Auszeit zu sorgen - und das Katastrophengebiet auch mal zu verlassen.
„Nur durch das Ahrtal zu fahren, ist sehr zehrend“ berichtet Daniela Lempertz. Mittlerweile sei den Betroffenen vor allem eine große Erschöpfung anzumerken. Es sei „unbegreiflich“ wie schnell aus einer vermeintlich sicheren Situation heraus eine Katastrophe über das Leben der Menschen hereinbrechen kann. Solch eine „kollektive Traumatisierung“ sei außerhalb von Kriegsgebieten selten zu finden. Die Flutkatastrophe habe ihr aber nicht nur vor Augen geführt, wie erschütternd solch ein Ereignis sein kann, sondern auch welche Resilienz und Fähigkeit zur Heilung in den Menschen steckt. Frau Lempertz ist überzeugt: „Menschen können sehr viel schaffen – aber sie brauchen die Hilfe und Unterstützung der Gemeinschaft“. Daher hält sie es auch für sehr wichtig, dass niedrigschwellige Hilfsangebote im Ahrtal erhalten bleiben. Das Netzwerk „Soforthilfe Psyche“ wird noch bis September 2022 hinein vor Ort aktiv sein. Zunächst sollen weiterhin Sprechstunden angeboten werden, außerdem wird verstärkt auch Gruppenarbeit durchgeführt: Mit Unterstützung des Ministeriums für Wissenschaft und Gesundheit des Landes Rheinland-Pfalz und der Landespsychotherapeutenkammer bietet das Netzwerk ab sofort „Info-Gruppen zur Orientierung bei Stress und nach Trauma“ an.
Einen Info-Flyer zu den Gruppen finden sie HIER.
Zukünftig wünscht sich Frau Lempertz außerdem den Aufbau eines Begegnungszentrums im Ahrtal, in dem Betroffene sich austauschen und vielfältige Unterstützungsangebote finden könnten. Hier sollen Begegnung, Heilung und Gedenken an die großen Verluste der Katastrophe ermöglicht werden. Es gibt noch viel zu tun.
Die LPK RLP bedankt sich herzlich bei Frau Lempertz für das interessante Gespräch, auf dem dieser Text basiert.