Dürfen Psychotherapeut*innen eine politische Meinung haben?
Selbstverständlich haben Psychotherapeut*innen zu globalen Themen wie der Klimakrise, Kriegen, gesundheitspolitischen Entwicklungen und Entscheidungen sowie zu lokalen Themen eine politische Meinung und möchten sich für diese einsetzen, sich engagieren und ggfs. öffentlich positionieren.
Aber wie verhält es sich mit der berufsrechtlichen Neutralitätspflicht? Dürfen Psychotherapeut*innen ihre persönliche Meinung zu bestimmten Themen in die Therapie einfließen lassen und wenn ja, wie weit darf das gehen?
Ausgangspunkt sind die Regelungen zur Abstinenz. Deren Beachtung ist Teil eines grundlegenden ethischen Prinzips der Psychotherapie, nämlich des Prinzips der Nichtschädigung der/ des Patient*in und hat eine präventive Funktion: Interessenkonflikte sollen abgewendet und Gefahren für den Therapieerfolg und die Gesundheit der/ des Patient*in soll vorgebeugt werden.
§ 6 Abstinenz
(1) Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten haben die Pflicht, ihre Beziehungen zu Patientinnen und Patienten und deren Bezugspersonen professionell zu gestalten und dabei jederzeit die besondere Verantwortung und ihren besonderen Einfluss gegenüber ihren Patientinnen und Patienten zu berücksichtigen.
Das Abstinenzgebot bezieht sich nicht nur auf sexuelle und/oder private Kontakte zwischen Psychotherapeut*innen und ihren Patient*innen; es gebietet vielmehr eine umfassendere Enthaltsamkeit der Psychotherapeut*innen gegenüber den Patient*innen.
Abstinenz bedeutet auch:
- Patient*innen keine konkreten politischen Ratschläge nach eigener Überzeugung zu erteilen,
- keine politischen Positionen und/ oder Einstellungen besonders drastisch zu loben oder auch negativ darzustellen,
- keine eigene politische Meinungsüberzeugung zu betreiben etc.
In der Psychotherapie kommt der Berücksichtigung und kontinuierlichen Gestaltung der Beziehung zwischen Psychotherapeut*innen und Patient*innen eine wesentliche Bedeutung zu. Eine tragende therapeutische Beziehung ist wichtiger Wirkfaktor und Voraussetzung für den Therapieerfolg. Diese Bindung kann durch unterschiedliche Ansichten in Bezug auf politische Themen beschädigt und die Therapie damit behindert werden.
Sobald Psychotherapeut*innen mit Patient*innen in eine politische Diskussion eintreten, beispielsweise deren politische Einstellung kritisieren und die eigenen Auffassungen klar zum Ausdruck bringen, liegt ein Verstoß gegen das Abstinenzgebot vor. Das Vorbringen persönlicher politischer Auffassungen in der Therapie, ist kein Teil der professionellen psychotherapeutischen Behandlung.
Psychotherapeut*innen müssen daher trotz der Nähe, die im psychotherapeutischen Dialog entsteht, die Grenzen der psychotherapeutischen Arbeitsbeziehung wahren und haben sorgfältig mit der Verletzlichkeit und Abhängigkeit der Patient*innen von dem/ der Therapeut*in umzugehen.
Patient*innen sollen stets den Freiraum haben, ihre eigene Situation ihrer/ ihrem Psychotherapeut*in zur Bearbeitung anvertrauen zu können, ohne auf deren persönliche Einstellungen Rücksicht nehmen zu müssen.
Psychotherapeut*innen haben somit während der Therapie auf die Darlegung politischer Anschauungen zu verzichten, da die Gefahr besteht, dass durch den besonderen Stellenwert und die Position der/ des Psychotherapeut*in ein Schaden für Patient*innen entsteht.
Auch wenn Psychotherapeut*innen Werteorientierungen einzelner Patient*innen als ethisch bedenklich empfinden und diese die/ den Psychotherapeut*in in Gewissenskonflikte bringen, rechtfertigt dies nicht den Verstoß gegen das Abstinenzgebot und die daraus erwachsende Neutralitätspflicht.
Im Kontext von Gruppentherapien kann dies, da auch der Schutz der Gruppe eine Rolle spielt, besonders herausfordernd sein. Es empfiehlt sich in Gruppentherapien von Anfang an zu kommunizieren, wie der Austausch im Rahmen der Gruppentherapie stattfindet und auch darauf einzugehen, dass es grundsätzlich keinen Raum für die Bekanntgabe politischer Meinungen und Haltungen gibt. Wenn einzelne Patient*innen derartige Themen dennoch ansprechen, sollte klar aber neutral darauf hingewiesen werden, dass das angesprochene Thema in eine politische Richtung tendiert und daher nicht weiter vertieft werden soll.
Soweit Patient*innen ihre eigenen Werteorientierungen immer wieder deutlich in die Therapie einbringen, dies trotz Hinweisen nicht unterlassen und dadurch die therapeutische Bindung beschädigen oder gefährden, kann eine Beendigung der Therapie, sowohl im Einzel- als auch im Gruppenkontext, möglich sein.
Was bei der eigenen Meinungsäußerung im Kontext sozialer Medien zu beachten ist, wird in unserem Praxistipp Nr. 22 erläutert.
Den Praxis-Tipp Nr. 23 "Dürfen Psychotherapeut*innen eine politische Meinung haben?" als pdf zum Download finden Sie HIER.