LPK-Mitglied Heike Jockisch: Psychotherapeutin an der Spitze des SOS-Kinderdorfs Kaiserslautern
„Die hohe Fachkompetenz der Psychotherapeut*innen ist in der Jugendhilfe sehr wichtig“ sagt eine, die es wissen muss: Die Psychologische Psychotherapeutin Heike Jockisch setzt sich bereits seit Jahrzehnten in der Kinder- und Jugendhilfe für psychisch belastete junge Menschen ein und ist Leiterin des SOS Kinderdorfes Kaiserslautern. Frau Jockisch ist Kammermitglied der ersten Stunde und war lange Zeit in der Vertreterversammlung der Landespsychotherapeutenkammer Rheinland-Pfalz aktiv, war Mitglied des Angestellten-Ausschusses und ist momentan Vorstandsbeauftragte für Institutionelle Versorgung. Im Gespräch mit der LPK RLP berichtete sie von ihrem Weg in die Jugendhilfe und von ihrem Arbeitsalltag:
Schon zu Schulzeiten interessierten Heike Jockisch die Motive der Menschen für ihr Handeln und Verhalten und sie beschloss, Psychologie zu studieren. Hier faszinierte sie zunächst besonders der Bereich der Psycholinguistik, sie war studentische Hilfskraft am Institut für Deutsche Sprache und in einem Sonderforschungsbereich zum Thema Sprache und Situation tätig. Doch auch die klinische Psychologie sagte ihr zu. Nach ihrem Studium blieb sie zunächst der Uni treu, nahm aber zusätzlich eine Stelle als Honorarkraft in einer städtischen Erziehungsberatungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern in Mannheim an. Sie arbeitete mit Gruppen alleinerziehender Mütter, kam erstmals mit dem Thema sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen in Berührung und spürte: „Hier kann ich mehr bewegen und lernen als an der Uni.“
1993 ergriff sie die Gelegenheit, eine Vertretungsstelle im Leitungsteam des Schifferkinderheims in Mannheim zu übernehmen und hatte damit ihre Berufung gefunden. Besonders die enge Vernetzung und Zusammenarbeit mit allen beteiligten Akteur*innen gefiel ihr gut: Der Austausch mit den Kindern und Jugendlichen und ihren Eltern, die Beratung der Teams, die Vermittlung der Kinder und Jugendlichen in Beratungsstellen. „Ich konnte mir nie vorstellen, allein in einer Praxis zu sitzen.“ Da die Stelle auf ein Jahr befristet war, musste sie im Anschluss etwas Neues suchen und kam so 1994 ans SOS-Kinderdorf Kaiserslautern. Sie plante, dort rund drei Jahre zu bleiben – nun sind es fast 30 Jahre, in denen Frau Jockisch die Institution entscheidend geprägt und ausgebaut hat. Seit 10 Jahren steht sie ihr als Einrichtungsleitung vor.
Zum SOS Kinderdorf Kaiserslautern, das im vergangenen Sommer sein 50-jähriges Jubiläum feiern konnte, gehört das Jugendhaus, in dem bis zu 18 Mädchen und Jungen leben können, die Einrichtung für betreutes Wohnen „LauBE“ für junge Menschen auf dem Weg in die Selbstständigkeit und das SOS-Familienhilfezentrum, eine auf Kinderschutz spezialisierte Beratungsstelle für Kinder und Jugendliche und deren Angehörige. Das Familienhilfezentrum ist rund um die Uhr telefonisch zu erreichen, auch eine Online-Beratung ist mittlerweile etabliert. In akuten Krisensituationen können Kinder für einen kurzen Zeitraum in Bereitschaftsfamilien in Obhut genommen werden. Weitere Säulen der Arbeit des SOS Kinderdorfs sind Frühe Hilfen sowie Kita- und Schulsozialarbeit.
Die Zugänge zu den Angeboten von SOS-Kinderdorf Kaiserslautern sind unterschiedlich: Es gibt offene Angebote, die Kinder und Jugendliche nach Bedarf in Anspruch nehmen können, den Kontakt zur Kinderschutzberatungsstelle vermittelt manchmal das Jugendamt, oft aber suchen Kinder und Jugendliche oder deren Angehörige den Kontakt direkt. „Thema der Beratung kann alles sein, was es im Leben und Erleben von Kindern“ gibt, erzählt Frau Jockisch. In der Beratungsstelle kreisen rund ein Drittel der Anfragen um das Thema sexualisierte Gewalt, auch andere Formen von Gewalt und Vernachlässigung sind häufige Gründe für die Kontaktaufnahme. Zu Beginn ihrer Arbeitszeit am SOS-Kinderdorf seien sexualisierte Gewalt und Traumatisierung noch kaum beforschte Themen gewesen, berichtet Frau Jockisch. Sie und ihre Kolleginnen seien auf viele Phänomene erst in der Praxis gestoßen und hätten daraufhin nach Informationen gesucht. „Am meisten habe ich von unserer Klientel gelernt“, resümiert Frau Jockisch.
Mittlerweile sei zu beobachten, dass die Fälle komplexer würden, häufig seien die Kinder und ihre Familien mehrfach belastet. Die Institution Familie befände sich im Wandel, feste Strukturen fielen weg, hinzu käme die Häufung von aktuellen Krisen, die die Menschen auch psychisch belasten. Großes Thema in der Beratung sei momentan die geschlechtliche Identität respektive Transgenderfragen; auch Fälle von Cyber Grooming und mediatisierter sexualisierter Gewalt haben stark zugenommen, hat Frau Jockisch beobachtet. Generell musste sie in ihren vielen Berufsjahren lernen: „Nichts kann so schlimm sein, dass es nicht existiert. Es gibt alles.“ Besonders für Opfer von ritualisierter sexualisierter Gewalt sei eine vollständige Heilung nicht wirklich möglich, doch mit psychotherapeutischer Hilfe seien Bewältigungsstrategien erlernbar. „Wenn Betroffene Gehör finden und ihnen das Widerfahrene geglaubt wird, dann ist das ein erster Schritt Richtung Hilfe“, erklärt die Psychotherapeutin.
Um selbst verarbeiten zu können, was Betroffene erzählt haben, sei Supervision und der Austausch im Team sehr wichtig. Außerdem helfen ihr dabei Spaziergänge mit ihren Hunden, erzählt Frau Jockisch. Seitdem sie die Einrichtungsleitung übernommen hat, ist sie selbst allerdings kaum noch in der Beratung tätig. Ihr obliegt nun die betriebliche Organisation und fachliche Weiterentwicklung der Einrichtung, sie kümmert sich um die Ausstattung und die Weiterbildung der Mitarbeitenden. Vier Bereichsleitungen stehen ihr hierbei zur Seite. Dabei fördert Frau Jockisch eine enge Kooperation ihrer Einrichtung mit dem Jugendamt, der Psychiatrie und niedergelassenen Kolleg*innen, sie kann viel Neues ausprobieren und hat viele Gestaltungsmöglichkeiten, was ihr sehr gefällt. „Offen für neue Wege sein und neugierig bleiben“ sei dabei das Wichtigste.
Für die Zukunft wünscht sich Frau Jockisch, dass Kindern und Jugendlichen in ihren Lebenswelten mehr niedrigschwellige Hilfen angeboten werden. Da die Kinder immer früher in die Kita kämen und es immer mehr Ganztagsschulen gäbe, bräuchte man dort vor Ort auch dringend die Fachkompetenz der Psychotherapeut*innen. Häufig sei psychotherapeutische Expertise wichtig, um festzustellen, ob man eine Belastung mit Krankheitswert vor sich sehe. Psychotherapeut*innen seien sehr gut ausgebildet und diese Kompetenz müsse in allen Bereichen der Jugendhilfe dringend erkannt, genutzt und auch entsprechend honoriert werden. Interdisziplinäre Zusammenarbeit sei besonders fruchtbar. Frau Jockisch plädiert dafür, die teilweise noch bestehenden Grabenkämpfe zwischen den Berufsgruppen zu überwinden und für eine bessere Versorgung der jungen Menschen mehr Netzwerke zu gründen, in denen alle vertreten sind: Psychologische Psychotherapeut*innen, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen, Kliniken, Sozialpädagog*innen und die vielfältigen Angebote der Jugendhilfe. Sie hofft, dass die jüngsten Ankündigungen der Regierung, die psychotherapeutische Versorgung für Kinder und Jugendliche zu verbessern, auch in die Tat umgesetzt werden. Schließlich sei das Bewusstsein für die Bedeutung von „mental health“ gewachsen - und da könne man die Psychotherapeut*innen nicht außen vor lassen.
Auch wenn sie Raum für Verbesserungen in der Jugendhilfe sieht, ist Frau Jockisch mit ihrem Berufsweg sehr zufrieden. Nur noch ein Jahr trennt sie von der Freistellungsphase der Altersteilzeit und sie zieht eine sehr positive Bilanz: „Ich würde es wieder so machen. Jugendhilfe ist ein sehr breites und buntes Feld mit viel Gestaltungsmöglichkeiten“, fasst sie zusammen. „Das ist die sinnvollste Tätigkeit, die ich mir vorstellen kann.“
Die LPK RLP dankt Heike Jockisch herzlich für das interessante Gespräch, auf dessen Grundlage dieser Text entstand.