Interview zu stationärer und ambulanter Versorgung psychisch kranker Menschen
Deutschland befindet sich in der Übergangsphase zwischen zwei Regierungen. Viele der von den Psychotherapeutenkammern adressierten Versorgungsprobleme sind bisher nicht angegangen worden und werden auch in der neuen Legislaturperiode Herausforderungen darstellen. Über die Missstände in der psychotherapeutischen Versorgung sowohl im stationären als auch im ambulanten Sektor haben wir mit Dr. Andrea Benecke (Präsidentin der Bundespsychotherapeutenkammer und Vizepräsidentin der Landespsychotherapeutenkammer Rheinland-Pfalz) und Peter Andreas Staub (Mitglied des Vorstandes der Landespsychotherapeutenkammer Rheinland-Pfalz und der Kassenärztlichen Vereinigung Rheinland-Pfalz) gesprochen.
LPK RLP: Frau Dr. Benecke, was erwartet mich, wenn ich in Deutschland wegen einer psychischen Erkrankung stationär aufgenommen werde?
Benecke: Anders als man vermuten würde, hätten Sie in der Psychiatrie wahrscheinlich nicht mehr Psychotherapie als wenn Sie sich ambulant behandeln lassen. Die psychotherapeutische Versorgung in der Psychiatrie ist leider weiterhin ungenügend. Gemäß den Vorgaben der PPP-Richtlinie (Personalausstattung Psychiatrie und Psychosomatik-Richtlinie) sollen 50 Minuten Einzelpsychotherapie pro Woche und Patient*in ermöglicht werden – das ist nicht mehr als in der ambulanten Versorgung, obwohl stationär aufgenommene Patient*innen eigentlich eine deutlich intensivere Behandlung benötigen. Zudem ist unklar, wie viele Minuten Psychotherapie bei den Patient*innen wirklich ankommen, weil Psychotherapeut*innen auch ihren Dokumentationspflichten und anderen bürokratischen Aufgaben nachkommen müssen. Der G-BA hat seinen gesetzlichen Auftrag zur Stärkung der Psychotherapie in der Psychiatrie immer wieder verschoben. Aber immerhin will er die die PPP-RL bis 2026 grundlegend überarbeiten. Die Minutenwerte für Psychotherapie sollten in der PPP-Richtlinie auf mind. 100 Minuten pro Patient*in und Woche angehoben werden. Das ist die gemeinsame Position von Bundespsychotherapeutenkammer, Bundesärztekammer und Patientenvertretung, die auch in die Beratung im G-BA eingebracht wurde.
LPK RLP: Können die Mindestanforderungen vielleicht nicht erhöht werden, weil die Kliniken aufgrund des Fachkräftemangels Probleme hätten, ihre Stellen zu besetzen?
Benecke: Nein, für die Berufsgruppe der Psychotherapeut*innen trifft das nicht zu. Noch haben wir keine Nachwuchsprobleme. Allerdings zeichnen sich in der Zukunft Schwierigkeiten ab, da bisher deutlich zu wenig Weiterbildungsstellen geschaffen wurden. Die Zahl der Absolvent*innen des neuen Psychotherapie-Studiengangs wird ab diesem Jahr auf jährlich 2.500 steigen. Alle Absolvent*innen, die einem Kassensitz anstreben, müssen im Anschluss an ihr Studium eine mindestens zweijährige stationäre Weiterbildung absolvieren. Aktuell gibt es aber noch nicht genügend stationäre Weiterbildungsstellen, weil die Stellen noch mit Psychotherapeut*innen in Ausbildung (PiA; nach dem alten Ausbildungssystem) besetzt sind und erst nach und nach frei werden. Für eine Übergangszeit gibt es deshalb einen finanziellen Förderbedarf für zusätzliche Stellen in den Krankenhäusern. Zusätzliche Stellen sind auch notwendig, um die psychotherapeutische Versorgung in den Kliniken nicht zu gefährden. In der Vergangenheit konnten – aufgrund der geringeren Vergütung der PiA – Planstellen regelhaft mit zwei oder mehr PiA besetzt werden. Bestehende Versorgungslücken im Bereich der stationären Psychotherapie wurden so geschlossen. Wenn die bestehenden Versorgungskapazitäten der PiA nicht umfassend durch Psychotherapeut*innen in Weiterbildung ersetzt werden können, kann die psychotherapeutische Versorgung der Patient*innen in den Einrichtungen zukünftig nicht mehr im bisherigen Umfang sichergestellt werden.
LPK RLP: Herr Staub, sind Weiterbildungsstellen im ambulanten Bereich leichter zu finden als in den Kliniken?
Staub: Noch ist es auch im ambulanten Bereich schwierig. Aber die KV RLP möchte ambulante Praxen ermutigen, Weiterbildungsstellen zu schaffen und hat als bundesweit erste Kassenärztliche Vereinigung in ihren Statuten ermöglicht, die Weiterbildung von Psychotherapeut*innen finanziell zu fördern: Für 2025 haben wir dafür im Haushalt 10 Stellen mit je 2.900 Euro vorgesehen. Nun hoffen wir, dass das Angebot angenommen wird und sich Praxen entschließen, entsprechende Stellen einzurichten. Wir brauchen auch in Zukunft dringend gut ausgebildete Psychotherapeut*innen, denn unsere Daten zeigen, dass die Fallzahlen der Menschen mit psychischer Belastung steigen. Der Anteil von F-Diagnosen, mit denen psychische Erkrankungen bezeichnet werden, unter der Gesamtzahl der Patient*innen lag im Jahr 2023 bei über 26 Prozent. Die Nachfrage nach Psychotherapie übersteigt das Angebot dabei deutlich.
LPK RLP: Welche Folgen hat das?
Staub: Die Wartezeiten auf Psychotherapie sind unzumutbar lang und steigen sogar noch an. Die durchschnittliche Wartezeit zwischen der ersten Sprechstundenleistung und der ersten psychotherapeutischen Behandlung betrug im 2023 durchschnittlich 121 Tage, zwei Jahre zuvor waren es noch 114 Tage. Bei Patient*innen unter 18 Jahren ist die Lage noch schlimmer: Sie warteten im Jahr 2023 durchschnittlich 143 Tage, zwei Jahre zuvor waren es noch 134 Tage. Stellen Sie sich vor, Sie müssten rund 20 Wochen auf Behandlung warten! In dieser Zeit kann die Erkrankung sich verschlimmern oder sogar chronisch werden. Jugendliche können unter Umständen in dieser Zeit nicht in die Schule gehen, verpassen den Anschluss an Gleichaltrige. Viele psychisch kranke Patient*innen müssen weite Anfahrtswege in Kauf nehmen, um einen Behandlungsplatz zu ergattern. Diese Missstände müssen dringend behoben werden.
LPK RLP: Wie könnte man die Versorgungssituation verbessern?
Staub: Schuld an den Versorgungsproblemen ist nicht etwa ein Mangel an Psychotherapeut*innen, sondern ein Mangel an Kassensitzen. Die Bedarfsplanung, die die Zahl der Kassensitze für Psychotherapeut*innen festlegt, ist veraltet und ging schon bei ihrer Entstehung von falschen Voraussetzungen aus. Sie muss dringend reformiert werden. Die KV Rheinland-Pfalz fordert seit Langem mehr Niederlassungsmöglichkeiten für Psychologische Psychotherapeut*innen und Kinder- Und Jugendlichenpsychotherapeut*innen, außerdem eine Umplanung der lokalen Versorgungsgebiete. Ziel muss sein, dass bei der Berechnung der Niederlassungsmöglichkeiten vom gleichen Bedarf wie bei der Planung von Hausarztsitzen ausgegangen wird. Psychotherapeutische und Hausärztliche Versorgungsangebote müssen für die Bevölkerung gleichwertig und gleichwichtig in der Anzahl sein. Auch die Psychotherapeutenkammern setzen sich seit Langem für mehr Kassensitze ein.
LPK RLP: Bisher aber ohne Erfolg?
Staub: Wir konnten im Februar 2024 einen wichtigen Erfolg verzeichnen: Der Landesausschuss der Ärzte und Krankenkassen hat zwölf neue psychotherapeutische Sitze für Rheinland-Pfalz genehmigt. Wir haben uns darüber sehr gefreut, aber es kann nur ein erster Schritt auf dem Weg zu einer bedarfsgerechten Versorgung gewesen sein. Nach unserem Kenntnisstand fehlen in Rheinland-Pfalz rund 200 psychotherapeutische Sitze. Wir setzen unsere Bemühungen also fort.
Benecke: Dasselbe gilt für die stationäre Versorgung. Leider wurden unsere Empfehlungen nicht im Rahmen der Krankenhausreform umgesetzt und aktuell sind keine Gesetzgebungsverfahren zur Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen zu erwarten. Wir müssen also zentrale Forderungen zur stationären Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen in die neue Legislaturperiode einbringen: Der gesetzliche Auftrag an den G-BA muss so formuliert sein, dass eine Erhöhung der Minutenwerte für Psychotherapie in der PPP-Richtlinie auch wirklich erfolgt. Zusätzliche Weiterbildungsstellen müssen für eine Übergangszeit über die Bundespflegesatzverordnung finanziert werden und die psychotherapeutische Versorgung in den Psychiatrischen Institutsambulanzen muss verbessert werden. Es liegt also weiterhin viel politische Arbeit vor uns!
LPK RLP: Vielen Dank für das interessante Gespräch.