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Dünn gleich glücklich?

Wer dünn ist, ist schön, glücklich, hat viele Freunde und Erfolg. Dieses Narrativ, das Idealbild des schlanken Körpers und die damit verbundenen positiven Zuschreibungen sind in unserer Gesellschaft allgegenwärtig – das bleibt nicht ohne Folgen: Ein Großteil der Menschen ist mit dem eigenen Körper unzufrieden und versucht, ihn zu optimieren. Die meisten möchten dünner sein, manche stellen gesunde Ernährung oder Muskelaufbau über alles, legen ein exzessives Sportverhalten an den Tag. Der Druck, dem Idealbild zu entsprechen, kann zu Ausgrenzung und großen psychischen Belastungen führen, zu Depressionen, verzerrter Selbstwahrnehmung und Essstörungen wie etwa Anorexie und Bulimie.

Diese Themen beschäftigen LPK-Mitglied Florian Hammerle beruflich schon seit vielen Jahren. Der Psychologische Psychotherapeut mit Zusatzqualifikation Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, der auch Mitglied im Ausschuss Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie der LPK RLP ist, begann bereits 2008 als studentische Hilfskraft an einem Projekt zur Prävention von Essstörungen mitzuarbeiten, war 2009 in einem Projekt zu Binge-eating tätig und blieb dem Themenfeld treu. Mittlerweile ist er Geschäftsführer der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz, so dass für eigene Patient*innen zu seinem Bedauern kaum mehr Zeit bleibt. In seiner wissenschaftlichen Tätigkeit, als Dozent und Betreuer von Masterarbeiten, bleiben Körperbilder und Essstörungen jedoch weiterhin wichtige Themen. Was ist das überhaupt – ein Körperbild? Wie kann man es untersuchen und wie eine Körperbildstörung therapieren?

„Das Körperbild lässt sich in drei Facetten einteilen“, erklärt Florian Hammerle. „Die kognitiv- emotionale, die behaviorale und die haptisch-perzeptive Facette.“ Die kognitiv-emotionale Facette beinhaltet Gedanken und Einstellungen einer Person zu ihrem eigenen Körper. Hier sind beispielsweise auch Scham und Ekel angesiedelt. Zur behavioralen Facette zählt das exzessive „Checking-Verhalten“, wenn also permanent das Gewicht, der Körperumfang oder Hautfalten kontrolliert werden. Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper kann zu starkem Vermeidungsverhalten führen: Betroffene meiden also Situationen, in denen sie ihren Körper den Blicken anderer preisgeben müssten, etwa im Schwimmbad oder der Sauna. Die haptisch-perzeptive Facette des Körperbildes schließlich meint die basale Körperwahrnehmung, also beispielsweise die gefühlte Wahrnehmung des eigenen Umfangs. Dieser wird von Menschen mit Körperbildstörung in der Regel massiv überschätzt.

Bei einer Körperbildstörung ist das Bild vom eigenen Körper verzerrt und sehr negativ, unabhängig davon, ob aus der Perspektive eines Außenstehenden dafür ein Grund erkennbar ist oder nicht. Die Betroffenen legen an den eigenen Körper meist viel strengere Maßstäbe an als an den Körper anderer Personen. „Auf die ersten beiden Facetten des Körperbildes kann man in der Therapie gut eingehen, sie im Gespräch und mit Expositionen bearbeiten“, erzählt Herr Hammerle. Schwieriger sei die dritte Facette, also wie Patient*innen ihren eigenen Körper wahrnehmen. Hier könne man Ansätze der Körper-, Bewegungs- und Ergotherapie nutzen. Spiegelkonfrontation komme zum Einsatz oder auch der Seiltest, bei dem die Patient*innen ihren (gefühlten) Körperumriss mit dem Seil legen und diese Form schließlich mit dem echten Körperumriss verglichen wird. Die Behandlung des Körperbildes ist in der Essstörungstherapie allerdings erst der letzte Schritt, dringlicher ist in der Regel die Gewichtsstabilisierung oder der Umgang mit Essattacken bzw. gegensteuerndem Verhalten wie Erbrechen. Ist dies geglückt, wird versucht, das Bild vom eigenen Körper zu verändern - dies ist schwierig und gelingt nicht immer vollständig. „Die Patient*innen müssen lernen, dass das Aussehen nur ein Aspekt des Körpers ist. Man muss sich fragen: „Möchtest du nur wegen deines Aussehens gemocht werden?“, erzählt Herr Hammerle. In der Therapie gilt es, der Ursache für die Essstörung auf den Grund zu gehen. Häufig wird die Erkrankung fast wie eine „Freundin“ wahrgenommen, die den Patient*innen hilft, mit Traurigkeit oder Depression umzugehen, berichtet Hammerle. Die Essstörung habe häufig eine hohe Funktionalität, sei ein Mittel um den letzten Bereich zu kontrollieren, der im Leben noch kontrollierbar scheine.

Essstörungen treten häufiger bei Mädchen und Frauen als bei Jungen und Männern auf und besonders in jungen Jahren, so Florian Hammerle. In einer Phase also, die von Unsicherheit geprägt ist und in der das Urteil der Gleichaltrigen große Bedeutung gewinnt. Um den Ursachen für Essstörungen entgegenzuwirken, sei ein stabiles soziales Netz der wichtigste Schutzfaktor, so der Psychotherapeut. Zur Prävention müsse die Resilienz der Kinder und Jugendlichen gestärkt werden. Zudem sei die Entwicklung von Emotionsregulationskompetenzen von großer Bedeutung. Man muss also frühzeitig lernen, Gefühle zu erkennen, auszudrücken und gut mit ihnen umzugehen – beispielsweise nicht aus Frust essen, sondern sich vertrauten Personen mitteilen, um wieder auf positivere Gedanken zu kommen. Wichtig sei es zudem, der Internalisierung des gängigen Schönheitsideals entgegenzuwirken und die enge Koppelung von „dünn“ und „beliebt/erfolgreich“ aufzubrechen. Spielerisch können Kinder beispielsweise lernen, dass die „schönste“ Person auf einem Foto nicht unbedingt die sein muss, mit der man auch am liebsten befreundet wäre. Sehen vielleicht andere sympathisch, lustig oder interessant aus, die nicht dem Schönheitsideal entsprechen? Körperbezogenem Mobbing in der Schule müsse Klassenzusammenhalt und Solidarität entgegengesetzt werden.

Wie man diese Ziele erreichen kann, erfahren Lehrkräfte im „Mainzer Schultraining zur Essstörungsprävention (MaiStep)“, das Florian Hammerle gemeinsam mit Kolleg*innen durchführt. Das Projekt ist eine Kooperation der Universitätsmedizin Mainz mit der Kaufmännischen Krankenkasse und wird vom rheinland-pfälzischen Bildungsministerium unterstützt. In den Fortbildungen lernen Lehrkräfte, wie sie ihren Schülern Kompetenzen vermitteln, die sie vor Essstörungen schützen.
Im Idealfall wird den Schüler*innen deutlich, dass man nicht dünn sein muss, um glücklich und erfolgreich zu sein - und dass Dünne nicht unbedingt glücklich sind, sondern manchmal sogar ganz schön unglücklich.

Die LPK RLP dankt Florian Hammerle herzlich für das interessante Gespräch, auf dessen Grundlage dieser Text entstand.

[Florian Hammerle]

29.06.2022
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