Psychotherapie und Strafverfahren schließen sich nicht aus
Opfer einer Straftat zu werden, geht für viele Menschen mit einer großen psychischen Belastung einher. Vor allem Personen, die interpersonelle und sexualisierte Gewalt erlebt haben, weisen ein hohes Risiko auf, eine Posttraumatische Belastungsstörung zu entwickeln. Eine möglichst zeitnahe psychotherapeutische Behandlung ist daher ratsam.
Häufig bestehen jedoch Unsicherheiten, ob eine psychotherapeutische Behandlung die Glaubhaftigkeit der Betroffenen als Zeug*innen beeinflusst und insofern vor oder während eines laufenden Strafverfahrens durchgeführt werden kann. Die die Aussage begleitenden Emotionen würden durch die psychotherapeutische Behandlung abgeschwächt, Erinnerungen womöglich verfälscht, so die Befürchtung. Die Gesundheit des Opfers der Straftat und die Aussicht auf eine erfolgreiche Strafverfolgung scheinen in einem Spannungsverhältnis zueinander zu stehen. Diesem Thema widmet sich ein empfehlenswerter, ausführlicher Artikel* im aktuellen Psychotherapeutenjournal (PTJ 3/24) von Dr. Sabine Ahrens-Eipper und Dr. Andrea Walter, der Vorbehalte reduzieren und die Handlungssicherheit für Psychotherapeut*innen erhöhen möchte.
Die Gesetzeslage ist eindeutig. Es gilt als unzumutbar, das Opfer nach Erleben einer Straftat psychotherapeutisch unbehandelt und damit medizinisch unterversorgt in den Gerichtsprozess zu entlassen. Es besteht kein gesetzliches Verbot von psychotherapeutischer Behandlung vor oder während eines laufenden Verfahrens, wie im zitierten Artikel klargestellt wird. Der Beweiswert von Zeugenaussagen, die nach oder während einer Psychotherapie erfolgen, ist nicht generell geringer.
Dennoch kann die Aufnahme einer Psychotherapie Auswirkungen auf das Strafverfahren haben. Richter*innen müssen sich hiermit in der Beweiswürdigung auseinandersetzen und sich mit der Glaubhaftigkeit der Aussagen befassen. Patient*innen sollten im Erstgespräch daher über mögliche Auswirkungen der Therapie auf den Prozess aufgeklärt werden.
Außerdem sollen suggestive Fragetechniken bezüglich traumatischer Ereignisse unbedingt vermieden werden, da bei nicht leitliniengemäßem Vorgehen Scheinerinnerungen induziert werden können. „Eine gezielte Suche nach bis dato nicht vorhandenen Erinnerungen ist in keiner Leitlinie zu finden und grundsätzlich nicht fachgerecht“, stellen die Verfasserinnen des PTJ-Artikels klar, geben aber für fachgerechte Therapie Entwarnung: „Ein leitliniengemäßes diagnostisches Vorgehen steht in keiner Weise unter dem Verdacht, Pseudoerinnerungen zu generieren“, so die Autorinnen.
Abgerundet wird der Artikel durch drei Praxisbeispiele und das Fazit: „Notwendige Behandlung aufzuschieben oder nicht durchzuführen, kann für uns keine Option sein. […] Kein Mensch […], der Opfer einer Straftat wurde und infolgedessen an einer Traumafolgestörung erkrankte, sollte vor die Wahl gestellt werden zwischen dem Wiedererlangen seiner psychischen Gesundheit und einer aussichtsreichen Strafverfolgung.“
* Ahrens-Eipper, Sabine u. Walter, Andrea: Psychotherapie und Strafverfahren – kein Widerspruch. Hintergründe und berufspraktische Hinweise für Psychotherapeut*innen, in: Psychotherapeutenjournal 3/2024, S. 242-250. Sie finden den Artikel hier.
Bitte beachten Sie zu diesem Thema auch den Praxistipp Nr. 18 der LPK-Juristinnen "Therapie und Strafverfahren“. Diesen finden Sie hier.