Cybermobbing: Interview mit Sabine Maur (LPK RLP) und Jörn Simon (TK RLP)
Cybermobbing entwickelt sich zunehmend zu einem großen Problem für Kinder und Jugendliche, mit teils gravierenden psychischen Konsequenzen bis hin zu Suizidgedanken. Fast jeder fünfte junge Mensch zwischen acht und 21 Jahren war schon einmal davon betroffen. Das zeigt die Studie „Cyberlife IV – Cybermobbing bei Schülerinnen und Schülern“ des Bündnisses gegen Cybermobbing e.V. und der Techniker Krankenkasse. Für die Studie wurden von Mai bis Juli 2022 355 Lehrer*innen, 1.053 Eltern und 3.011 Schüler*innen bundesweit online befragt.
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Die Landespsychotherapeutenkammer Rheinland-Pfalz (LPK RLP) hat Jörn Simon, Leiter der TK-Landesvertretung Rheinland-Pfalz, und Sabine Maur, Präsidentin der LPK RLP und niedergelassen in eigener Psychotherapie-Praxis für Kinder- und Jugendliche, um ihre Expert*innen-Einschätzung der Studienergebnisse gebeten.
Landespsychotherapeutenkammer Rheinland-Pfalz (LPK RLP): Herr Simon, was war für Sie das wichtigste Ergebnis der Studie Cyberlife IV?
Jörn Simon: Das wichtigste Ergebnis der Studie war sicherlich, dass 1,8 Millionen der Schülerinnen und Schüler bundesweit bereits einmal Opfer von Cybermobbing waren. Das ist eine erschreckend hohe Zahl. Vier von fünf Betroffenen werden nach eigenen Aussagen beleidigt und beschimpft. Zudem werden viele von ihnen ausgegrenzt, bedroht oder es werden Lügen über sie verbreitet.
LPK RLP: Frau Maur, haben Sie in Ihrer Praxis häufig mit Fällen von Cybermobbing oder anderen Fällen digitaler Gewalt zu tun?
Sabine Maur: Solche Fälle werden uns noch eher selten geschildert. Häufig wissen ja beispielsweise die Eltern gar nichts davon, weil die Kinder bzw. Jugendlichen es aus Scham und Angst für sich behalten. Am ehesten ist es Thema, wenn Kinder insgesamt Mobbing ausgesetzt sind und in diesem Zusammenhang auch digitale Formen des Mobbings bekannt werden, z.B. via WhatsApp. Meiner Meinung nach sollte es in der Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen Standard werden, auch nach ihren digitalen Erfahrungen und Erlebnissen zu fragen, positiven wie negativen.
LPK RLP: Welche negativen digitalen Erfahrungen machen Kinder und Jugendliche denn? Welche Formen von Cybermobbing gibt es?
Sabine Maur: Es gibt sehr viele verschiedene Formen. Das reicht vom „Fertigmachen“ in der Klassen-WhatsApp-Gruppe über herabwürdigende Kommentare in den Sozialen Medien bis hin zum Posten von Fotos oder Videos der Betroffenen im Internet. Solche Fotos können zusätzlich negativ manipuliert sein. Auch eigentlich vertraulich zugesandte intime Fotos können ungefragt öffentlich gemacht und digital „herumgereicht“ werden. Zur digitalen Gewalt zählt auch, anderen ungefragt Gewalt- oder Pornodarstellungen zu schicken. Desweiteren nutzen ältere Jugendliche und Erwachsene Online-Plattformen und -Spiele, um sich Kindern und Jugendlichen anzunähern, um beispielsweise intime Fotos zu erhalten, mit denen sie dann wiederum die Betroffenen erpressen.
LPK RLP: Welche psychischen Folgen hat Cybermobbing für die Betroffenen?
Sabine Maur: Digitale Gewalt kann psychisch sehr belastend sein. Häufige Reaktionen sind Verunsicherung, Scham, Hilflosigkeit, Angst, Misstrauen. Es kann zu sozialem Rückzug, Schlafproblemen und Leistungsproblemen führen. Das kann sich insgesamt verstärken bis hin zur Entwicklung von psychischen Erkrankungen wie Depressionen und Angststörungen. Für viele Betroffene ist zusätzlich sehr belastend, dass z.B. online gestellte Fotos von jedem gesehen werden und auch nicht mehr entfernt werden können. Sie haben dann das Gefühl, „es hört nie auf“.
Jörn Simon: Die Studie zeigt, dass sich jedes dritte Cybermobbing-Opfer dauerhaft belastet fühlt. Dies führt sogar bei einem Viertel der Betroffenen zu Suizidgedanken. Das ist alarmierend. Nicht selten kommen auch Alkohol oder Tabletten ins Spiel. Da Suizid zu den häufigsten Todesursachen bei Jugendlichen im Alter von 12 bis 15 Jahren zählt, ist es für die Techniker Krankenkasse (TK) von enormer Bedeutung, etwas dagegen zu unternehmen.
LPK RLP:Haben sich die Zahlen zum Phänomen Cybermobbing seit der letzten Erhebung verändert?
Jörn Simon: Der Vergleich mit den Zahlen aus dem Jahr 2020 zeigt, dass die Anzahl der Schülerinnen und Schüler, die Opfer von Mobbing wurden, leicht zugenommen hat. Dabei steigen die Mobbingerfahrungen auch mit zunehmendem Alter. Bei den Opfern von Cybermobbingattacken ist im Jahr 2022 ein leichter Rückgang von 0,6 Prozentpunkten erkennbar. Da im Jahr 2020 bei einem Drittel der Betroffenen die Vorfälle im Kontext des Fernunterrichtes stattfanden, kann der leichte Rückgang durch die Wiedereinführung des Präsenzunterrichtes erklärt werden.
LPK RLP: Die Corona-Pandemie hatte also Einfluss auf die Entwicklung?
Jörn Simon: Zwei Drittel der befragten Kinder und Jugendlichen sind der Meinung, dass Cybermobbing während der Corona-Pandemie zugenommen hat. 37 Prozent der Schülerinnen und Schüler geben an, Cybermobbing habe während des Fernunterrichts stattgefunden. Zudem empfanden die Schülerinnen und Schüler Cybermobbing während des Fernunterrichts rufschädigender und die Attacken gewaltbereiter. Dies zeigt, welchen Einfluss Schulschließungen auf das Verhalten im Netz hatten und somit auch auf die mentale Gesundheit der Betroffenen. Am häufigsten erfolgten die Angriffe über Instant Messaging-Dienste wie WhatsApp und Skype und über soziale Netzwerke. Dabei sind die Kommunikation und der Austausch einer der wichtigsten Gründe für die Nutzung von sozialen Netzwerken. Insbesondere Jugendliche, die mit ihrem Leben unzufrieden sind, nutzen diese Plattformen, um Freunde zu finden.
Außerdem hat sich durch Corona die tägliche Internetnutzung der Schülerinnen und Schüler deutlich erhöht. Unsere „Cyberlife IV“-Studie hat ergeben, dass sie unter der Woche vier und an den Wochenenden sogar sechs Stunden im Internet verbringen.
LPK RLP: Frau Maur, woran können Eltern denn erkennen, dass ihr Kind von Cybermobbing betroffen ist?
Sabine Maur: Es gibt keine speziellen Anzeichen. Wichtig ist grundsätzlich immer, bei starken Verhaltensänderungen eines Kindes sensibel nachzufragen, was das Kind belastet. Unsere Generation hat häufig nicht im Blick, welche Belastungen inzwischen durch Online-Aktivitäten entstehen können.
LPK RLP: Was kann man präventiv tun, um sein Kind vor Cybermobbing zu schützen?
Sabine Maur: Wichtig ist, sich auch als Eltern intensiv mit den digitalen Lebenswelten des Kindes zu beschäftigen und Vor- und Nachteile sowie mögliche Gefahren mit seinem Kind zu besprechen. Die Maßnahmen, die man seinen Kindern im „echten“ Leben vermittelt, um sich so gut es geht vor Gefahren zu schützen, muss man heutzutage auch für die digitale Welt mitdenken. Und wichtig ist natürlich seinem Kind zu vermitteln, dass es sich mit allen Belastungen an uns als Elternteil wenden kann, auch wenn es Sorge hat, selbst etwas „falsch“ gemacht zu haben.
Jörn Simon: Schülerinnen und Schüler, die mit ihrer sozialen Lebenssituation unzufrieden sind, sind viel stärker von Cybermobbing betroffen und weniger resilient. Meist verbringen sie zudem viel mehr Zeit im Internet als ihre zufriedenen Mitschüler. Diese Erkenntnis zeigt, dass Prävention schon im Elternhaus beginnt. Unsere Studie belegt jedoch auch, dass Eltern häufig nicht ausreichend über die Neuen Medien informiert sind. Dabei wünschen sich die Schülerinnen und Schüler vor allem Unterstützung durch Eltern und Freunde.
LPK RLP: Welche Rolle spielen die Schulen im Umgang mit Cybermobbing?
Sabine Maur: Die Schulen bieten zunehmend Informationen und Aufklärung an, was das digitale Leben und auch digitale Gewalt angeht, sowohl für die Schüler*innen als auch für Eltern. Das sollte sicher noch intensiviert werden. Hier müssen Lehrkräfte weiter sensibilisiert und fortgebildet werden; das gilt übrigens natürlich genauso für die Gesundheitsberufe wie z.B. Psychotherapeut*innen. Schulische Maßnahmen gegen Mobbing müssen digitales Mobbing einschließen.
Jörn Simon: Nach Wahrnehmung der Kinder und Jugendlichen kommen aber nur wenige Schulen der Aufgabe nach, über Cybermobbing aufzuklären. Dabei haben Schulen, die aktiv gegen Cybermobbing vorgehen, auch weniger Probleme mit anderen Formen der Diskriminierung. Daher bietet die TK mit dem Antimobbing-Programm „Gemeinsam Klasse sein“ in Kooperation mit dem Bildungsministerium und dem Pädagogischen Landesinstitut Unterrichtsmaterialien für Lehrkräfte an. Zudem fördert die TK Präventionsangebote in Zusammenarbeit mit der „JUUUPORT“, einer Peer-to-Peer-Education, und dem „Krisenchat“, einem 24-Stunden-Chatangebot.
LPK RLP: Herr Simon, welche Forderungen leiten Sie aus den Studienergebnissen ab?
Jörn Simon: Wir fordern von der Regierung ein Cybermobbing-Gesetz. Trotz der 1,8 Millionen betroffenen Schülerinnen und Schüler wird Cybermobbing nur in seltenen Fällen strafrechtlich geahndet. Auch unsere Studie hat ergeben, dass sich Kinder und Jugendliche mit zunehmendem Alter eine gesetzliche Regelung gegen Cybermobbing wünschen. 97 Prozent der befragten Schülerinnen und Schüler haben ein eigenes Profil in den Sozialen Medien. Diese hohe Prozentzahl macht deutlich, dass die Medien längst fester Bestandteil des alltäglichen Lebens geworden sind. Daher sind unsere Kinder und Jugendlichen dort genauso schutzbedürftig wie im realen Leben.
Die LPK RLP dankt Jörn Simon und Sabine Maur herzlich für das interessante Interview!